Die Kraft der roten Göttin
24. April 2024
Die Kraft der roten Göttin - eine Geschichte zu Beltane
Ein unschuldiges Kind, geboren in diesem Land, ein Mädchen, zart und rein erblickte einst das Sonnenlicht auf Mutter Erde.
An einem Tag, an dem die dunklen Wolken sich verzogen, der Atem der Bäume für einen Moment stillstand und die Engel ein Fest der Liebe feierten. Der Himmel schenkte den Menschen einen Regebogen und all die Bewohner blickten staunend auf die leuchtenden Farben, welche die Sorgen und Ängste in ein hoffnungsvolles Glück wandelten.
Es war ein besonderer Tag und die Luft war erfüllt von erwartungsfrohen Gezwitscher der Vögel und dem Summen der Bienen. Alles lief im geschäftigen Treiben, machte sich auf, um die Vorbereitungen für Feld und Wiesen zu schaffen.
Der Frühling warf bereits die ersten Farben ab, um in ein sattes Grün zu tauchen und das Wunder der reifenden Früchte voranzutreiben. Die Tage wurden wärmer und die Sonne strahlte aus immer höheren Sphären und sandte ihr Licht in jeden Winkel und unter jedes Blatt.
Es waren die Tage des Südens, des Reifens und Werdens, die Tage der Freude, die Tage, an welchen das Leben sich ins Außen zog und die kalten inneren Räume einem tiefen Vergessen wichen.
So wuchs das Mädchen, welches den reinen Samen der Liebe in seinem Herzen trug, von Jahr zu Jahr, lernte und spielte, beobachtete und lauschte und wurde zu einer wunderschönen Frau, die jedes Herz zum Leuchten brachte.
Doch wie das Leben so manches Mal will, waren es nicht nur die schönen und zauberhaften Tage, die das Lernen und Erleben der jungen Frau mit sich brachte.
Der schmerzhafte Abschied von geliebten Menschen, die Zurückweisung anderer, der Zweifel des eigene Ichs, die unvermeidbaren Fehler, die gemacht werden wollten, und die Herausforderungen des Alltags, ließen auch bei ihr Wunden und Narben zurück.
Sie hatte gelernt, dass alles was ihr begegnete, alles, was sie erfuhr an Schmerz und Freud, eine Prüfung war. Das all das einem Zyklus folgte, wie das Auf und Ab der Gezeiten, wie das Werden und Gehen der Natur. Sie hatte gelernt, dass es an ihr Selbst lag, wie sie mit all dem umging, was sie dachte und daraufhin tat.
Daher fragte sie stets ihr Herz und erinnerte sich an die ersten warmen Sonnenstrahlen, an den Beginn der Sommertage und kehrte zurück zu ihrer eigenen Wärme, die sie tief in sich trug.
Sie hatte gelernt, mit den Tieren und Pflanzen zu sprechen, sie hatte dem Fluss und den Stürmen gelauscht. Sie legte jeden Tag einen Dank für Mutter Erde aus und betet mit dem Feuer, das ihr Licht und Wärme schenkte.
Und so zogen die Jahre übers Land und aus dem jungen Mädchen wurde eine kraftvolle Frau, die eins war mit sich und ihrer Umgebung, die gelernt hatte, sie selbst zu sein und ihren Weg des Herzens zu gehen.
Der Schöpfer betrachtete ihr Leben voller Freude und hielt schützend seine Hand über sie. Nichtsdestotrotz hatte auch sie ihren freier Willen und auch die Seelenaufgabe, die sie in dieses Leben mitbrachte, hatte weiterhin ihre Gültigkeit.
So kam es, dass sie eines Tages ihr Herz voller Schwere wahrnahm, sich über nichts mehr freute und dunklen und düsteren Gedanken nachhing. Kein Sonnenstrahl erweckte mehr ihr Lächeln, kein Vogelgezwitscher lies sie mehr singen und den Fluss hörte sie als meckerndes Geplätscher.
Da schickte ihr der Schöpfer eine Boten, der ihr ein rotes Kleid in einen hübsch eingewickelten Tuch brachte. Das Kleid schimmerte wie glutrote Feuerfunken, war mit Rubinen besetzt und raschelte wie der Wind in einer lauen Sommernacht.
Nach einem kurzen Blick auf das Kleid, lies sie es jedoch fallen und warf es achtlos in die Truhe mit all den anderen farbenfrohen Gewändern, die sie nicht mehr trug.
Als am nächsten Tag der kleine Nachbarsjunge zu Besuch kam, entdeckte er die Truhe und zog all die schönen Stoffe heraus, verkleidete sich und spielte König. Doch ein König braucht eine Gemahlin und so bat er sie, dass rote Kleid anzuziehen und mit ihm Hochzeit zu feiern. Wollte sie doch, trotz ihrer schweren Gedanken, dem Kind einen Gefallen tun und zog sich das Kleid über. Sie trat vor den alten Spiegel, der schon milchig und trüb war, doch in diesem Moment kam die Sonne durch das Fenster und lies das Kleid und die Rubine funkeln und glitzern.
Wie gebannt starrte sie auf ihr eigenes Spiegelbild und ihr Herz klopfte wild und heftig. Sie fasst sich an die Brust und wurde sich plötzlich wieder gewahr:
Mein Herz! Wie konnte ich dich vergessen? Bist du mir doch immer treu gewesen, hast mich auf den rechten Pfaden geführt und mein Leben versüßt. Hast mich spüren und fühlen lassen und mir die Augen mit Schönheit gefüllt.
Und so erinnerte sie sich: an sich Selbst und an ihre Liebe, an ihre Kraft und ihre ursprüngliche Reinheit. Überwältigt von all dessen schritt sie hinaus, begrüßte die Bäume, die Landschaft, tanzte mit ihrem roten Kleid, umarmte all die Menschen, denen sie begegnete und sang aus vollem Herzen: „Ich bin der Sommer, ich bin der Frühling, ich bin der Herbst und ich bin der Winter. Ich bin alles und alles ist in mir. Doch will ich Leben – den Sommer im Jetzt und Hier!
Und der Schöpfer lächelte zufrieden und erfreute sich über sein Erdenkind, dass bis zu seinem Lebensende das rote Kleid in Ehren hielt und sich täglich erinnerte, dass sie die Wahl hatte, welches Kleid sie in ihrem Leben trägt und welches sie in der Truhe achtlos liegen lässt.
Und so beschloss er, die Kraft des Sommers, der Wärme, des Feuers, des Lichts und der Selbstliebe in das Kleid einer jeden Frau zu weben, sie zu einer Göttin des Lichts werden zu lassen, wenn sie es nur will.
Uns so liegt es an dir, den Sommer einzuladen, das Leben zu feiern und zu genießen, das rote Kleid herauszuholen und dein Herz schlagen zu hören.
© Daniela Lauber